Sonntag, 07. Juni: Ankommen, Annehmen und Abschied sagen

Der letzte Tag, der letzte Lauf, der letzte Beitrag meiner Wanderung in die alte Heimat meiner Oma. Er fällt mir besonders schwer, zu beschreiben. Weil es Ziel und Abschied gleichzeitig ist; bedrückend und beeindruckend zugleich, traurig und doch freudig, beklemmend und doch befreiend. Es ist schwer zu beschreiben, weil es nicht nur das beliebige Ende einer Reise ist, nicht nur ein Ankommen. Was es mehr ist, kann ich noch immer nicht ganz in Worte pressen.

Aber ich werde es versuchen. Angefangen hat der Sonntag grau, trüb, verregnet. Irgendwie passend. Schlafen konnte ich kaum, vor Aufregung?, vor Vorfreude?, vor Angst vor dem Ende?, vor Ungewissheit, was in dem Moment, auf den ich drei Wochen zulaufe, mit mir passieren wird?, ob was passieren wird..? Wer weiß. Erstaunlicherweise haben weder Papa noch ich erhebliche Schaden von den ewigen Kilometern am gestrigen Tage davon getragen – umso besser. Wir schreiten munter los und schauen uns zunächst die (verschlossene) Kirche St. Wendelin in Perštejn an, in die Oma früher gegangen ist und die 1996 bis 2010 renoviert worden war. Von einer Gesellschaft, die auch oberhalb der Gemeinde ein Denkmal setzte für die „erloschenen Gemeinden“, ein Ausdruck der mir gefällt, weil er viel an Bedeutung in sich trägt.

Aufbruch nach vorne in die Vergangenheit.

Aufbruch nach vorne in die Vergangenheit.

Renovierte St. Wendelin Kirche der Gemeinde Perštejn in der Ortschaft Perštejn, wo auch Omas Schule stand.

Renovierte St. Wendelin Kirche in der Ortschaft Perštejn, wo auch Omas Schule stand.

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf dem Weg zwischen Perštejn und Černýš.

Auf dem Weg zwischen Perštejn und Černýš.

Der Weg nun nach Černýš (Tschirnitz) ist nicht weit, ich weiß gar nicht mehr genau, wie weit. Waren es 3,5 Kilometer laut Schild? Möglich. Ist aber auch egal, denn wir haben dank unserer Tapferkeit gestern heute viel Zeit und laufen gemütlich über Feld und einen Hügel zum Nachbarort. Wir schwatzen und ich bin fast erschrocken, als Papa sagt, wir sind da. Ich denke erst, er meint Tschirnitz, doch wir sind DA. An der Mauer, die den alten Hof meiner Oma Marie Engler, geborene Ebert, und ihrer Familie umgibt.

Der Moment, in dem wir um die Mauer herum gegangen sind und vor den verfallenen Gebäuden des Ebert-Hofs stehen. Den ich bisher nur auf Fotos gesehen hatte und aus Erzählungen kannte, welches Gebäude das Wohnhaus war, welches der Stall, wo der Heuboden. Der ist für mich auch im Nachhinein noch am stärksten. Und ein Moment, der erst nach Verlassen des Hofs, nach Verlassen von Tschirnitz, auftritt.

Aber erst einmal bin ich angekommen. 466 Kilometer weiter und 21 Tage nach dem Loslaufen im Spessart, vor dem Haus in Hasloch, der neuen Heimat meiner Oma, einen Tag nach ihrem 90. Geburtstag, bis in die alte Heimat Tschirnitz im ehemaligen Sudetendeutschland, heutiges Tschechien.

Der Ebert Hof in Tschirnitz

Der Ebert Hof in Tschirnitz

Das Wohnhaus mit eingestürtzdem Dach

Das Wohnhaus mit eingestürtztem Dach

Rotes Tor mit Betreten Verboten-Schild

Das rote Tor mit Betreten Verboten-Schild

Nach einer Weile unschlüssigem Davorstehen, Drumherumgehen und durch das Gittertor in der Mauer lugen, beschließe ich trotz Warnschilder auf das Grundstück zu gehen. Ich kletter über das Tor und stehe im zugewucherten Hof zwischen dem Wohnhaus auf der rechten Seite mit dem stark eingefallenen Dach und den Ställen, Lagerhaus und Heuboden links von mir beziehungsweise vor mir. Ich gehe erst zum linken Gebäude und überlege kurz, auf den Heuboden zu gehen, doch die Holztreppe sieht nicht mehr vertrauenerweckend aus. Auch die restlichen zu sehenden Böden sind schon teilweise eingefallen, viele Steine aus den Mauern gelöst – ich will keine Dramen auslösen und betrete daher keines der Gebäude, so sehr es mich auch in allen Fasern gribbelt.

Es wäre auch gar nicht so einfach, denn die Natur hat sich viel zurück geholt: An das Wohnhaus komm ich nicht besonders nah ran, aber durch eine Tür sehe ich noch Geräte und die eingestürzten Böden des ersten Stocks. Ein Torbogen im Hof steht noch, dahinter liegen Mauerreste, überwuchert von Brennesseln und anderem Gewächs. Sind das Stall- und Wohngebäude noch als Haus erkennbar, finde ich daneben komplett eingestürzte Mauerreste von Anbauten des landwirtschaftlichen Hofs.

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Ställe, Heulager, Schuppen (Seitenansicht)

 

Blick von Außen (Rückseite Heuboden)

Blick von Außen (Rückseite Heuboden)

 

Blick ins Innere

Blick ins Innere (Heuboden)

Nebengebäude, überwuchert und...

Nebengebäude: überwuchert und

 

…eingestürzt.

 

 

 

Ehemaliges Wohnhaus der Familie Ebert

Ehemaliges Wohnhaus

 

 

 

 

Keine Chance, ins Wohnhaus zu kommen (Seitenansicht vom Inneren des Hofes aus)

Keine Chance, dort rein zu kommen (Seitenansicht vom Inneren des Hofes aus)

 

 

 

 

 

 

 

 

Es ist nicht schwer sich vorzustellen, dass hier mal Leben herrschte; aber welches und wie. Und schwer zu begreifen, dass Oma hier lebte, arbeitete, aufwuchs und es ihr weggenommen wurde, weil Regierungen es so beschlossen haben. Die Spuren der Zeit, man sieht sie nicht nur, man fühlt sie, und es ist in Ordnung. Denn am Ende wäre es für mich, meinen Vater, meine Familie natürlich fatal gewesen, wenn Oma nicht hätte hinter die neuen deutschen Grenzen müssen. Doch am Ende bleibt es eine Vertreibung. Und eine Verschwendung, eine unglaubliche Verschwendung eines großen, gut funktionierenden Hofes in einer wunderschönen Lage hier in den sanften Bergen um die Eger; einen Hof,  den man hat verfallen lassen. Untergangen, in Vergessenheit geraten, erloschene Gemeinden.

Ich kletter zurück über das Tor, verstreue blau blühende Leinsamen vor dem Tor und pflanze ein paar der Sonnenblumenkerne, die mir meine Tante mitgegeben hat, in den Boden vor die Mauern, die das ehemalige Wohnhaus mit dem eingefallenen Dach einschließen.

Sonnenblumen und Leinsamen

Sonnenblumen und Leinsamen

 

 

Traurig und glücklich zugleich - das gelungenste Selbstportrait :)

Traurig und glücklich zugleich – das gelungenste Selbstportrait 🙂

 

 

 

 

 

 

 

Dann gehen mein Vater und ich weiter, in der Geschichte nach vorne: Fühlte ich im ersten Moment Bedrückung und Beklemmung, und fühlte ich kurz danach im Hof selbst nichts, eine neugierige Distanziertheit, so fühle ich beim Verlassen von Tschirnitz die Traurigkeit eines Endes, eines Abschieds. Und dann die Befreiung von etwas, die Freude, es geschafft zu haben, den Weg gemacht zu haben, da gewesen zu sein.

Wir laufen noch ein paar sehr schöne Kilometer bis Klösterle (Klášterec nad Ohří). Papa fragt ein paar mal, ob es mir gut geht: Das ist der zweite Moment, der mir stark in Erinnerung geblieben ist. Wie ich sagen will, Ja na klar!, denn es ist alles gut, und ich mich kurz fassen muss ohne zu wissen oder beschreiben zu können, wie ich mich fühle. Enden fallen mir immer schwer, und bei dieser Wanderung besonders. Aber bitte, denkt nicht, ich bin nur schwermütig: Eine tiefe Zufriedenheit, angekommen zu sein und es zu Ende gebracht zu haben. Traurig und glücklich zugleich, seltsam vielleicht, aber ehrlich.

Besonders seltsam ist es dann, nach einer Zugfahrt durchs Egertal von Karlsbad aus mit dem Auto heimzufahren: Wir fahren fast die Strecke ab, die ich hergewandert bin – wieder stehen 3 Stunden, 3 Wochen gegenüber! Bei vielen Schildern rufe ich „Da war ich!“, „Da hab ich bei Familie Röderer in Seussen übernachtet, und die Burg haben sie mir gezeigt!“, „Da bin ich auch durchgelaufen“ oder „Da habe ich gezeltet“. Als würde ich meine Wanderung rückwärts durchleben.

Noch seltsamer ist, jetzt wieder daheim zu sein. Schon. Zurück im Frankfurter Zimmer vor dem Laptop. Nicht in einem Zelt, unbequem hin- und herwälzend während ich mühsam auf dem Tablet tippe und auf gutes Netz hoffe. Hin- und Herwälzen muss ich mich nun nicht mehr, auch wenn ich das Vermissen werde – das Zelt, die harte Isomatte, die Zerknautschtheit am Morgen, das nervige Abbauen und Verstauen, das Loslaufen, die Natur, das Wandern, das Wandern, das Wandern – aber hin- und her springen noch meine Gedanke, denn es ist noch ein Abschied zu meistern:

Der von diesen Berichten und der von Euch, die ihr mit dabei ward (Papa, Kerstin, Lena, Matthias, Torben, Willy und die große Pizza-Familie, die Reuters vom Hofgut Sodeberg, Ehepaar Hennings, Waltraud Rauprich und Ehemann, Jugendherberge Altenstein, Coburger Sigi, Teilnehmer der Vater-Kind-Freizeit Effelter Mühle, die Seusseners Gisela, Gernot und Sabine, Tante Inge mit ihren Blumengeschenken) und von Euch, die ihr mir folgtet in Gedanken. Das will ich, in Gedanken an meine Oma und meinen Opa, tun mit einem einfachen Wort, einem kurzen ehrlichen Wort, fünf Buchstaben, die ausdrücken, wie sehr ich es liebe, dass IHR MICH BEGLEITET HABT:

DANKE

Auf dann! Eure Hanna

Auf dann! Eure Hanna

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5 Kommentare

  1. Das Sommermärchen 2015 ist zu Ende 😦 …Nein – nicht ganz: Im Herbst wird ich Deiner Oma die Sonnenblumen bringen, dann schliesst sich der Kreis. Die kurze Strecke geh ich doch auf Händen 🙂 Dann erst ist das Sommermärchen zu Ende.

  2. Mein großes Kompliment an Dich Hanna! Schade, dass ich nicht ein Stück des Weges mit Dir gehen konnte. Naja, wenigstens in Gedanken – dafür aber täglich. Jetzt dauert es nicht mehr lange und ich packe wieder meinen Rucksack. Die Berge Nordalbaniens warten auf mich…

    1. Vielen lieben dank Thorsten! Ich habe deine mentale Anwesenheit durchaus mit sehr großer Freude zur Kenntnis genommen. Gerne würde ich im Gegenzug meinen Rucksack wieder packen und mit dir nach Albanien kommen 🙂

  3. Was für ein emotionales Finale einer aussergewöhnlichen Tour, einer außergewöhnlichen Wandererin mit wunderschönen Geschichten die uns die Tage versüßt haben. Danke, das ich teilhaben Durfte. Auf neue Geschichten und Touren – auf denen es sicher ein Wiedersehen gibt.

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